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Mehrwertsteuern

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Ermessenseinschätzung

Rechtsgebiet:
Mehrwertsteuern
Stichworte:
Mehrwertsteuer, Mehrwertsteuern, MWST
Autor:
Bürgi Nägeli Rechtsanwälte
Herausgeber:
Verlag:
LAWMEDIA AG

Die Veranlagung und Entrichtung der MWST erfolgt – wie vorne dargestellt – nach dem Selbstveranlagungsprinzip (sog. Selbstdeklaration).

Einschätzung

  • Die ESTV schätzt die Steuerforderung nach pflichtgemässem Ermessen ein:
  • Keine oder nur unvollständige Aufzeichnungen vor (= Verstoss gegen die formellen Buchführungsvorschriften)
  • Ausgewiesenen Ergebnisse stimmen mit dem wirklichen Sachverhalt offensichtlich nicht überein (= Verstoss gegen die materiellen Buchführungsregeln)
  • MWST 79 Abs. 1

Einschätzungsmitteilung

  • Die Festsetzung der Steuerforderung erfolgt mit einer Einschätzungsmitteilung (MWSTG 79 Abs. 2)

Einschätzung nach pflichtgemässem Ermessen

  • Nicht nur Recht, sondern Pflicht
    • Bei erfüllten Ermessenstaxation-Voraussetzungen ist die ESTV nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, eine solche nach pflichtgemässem Ermessen vorzunehmen
      • Berücksichtigung von Umständen, von denen die ESTV Kenntnis hat
  • Vorsichtige Schätzung, aber …
    • Die ESTV hat zwar eine vorsichtige Schätzung vorzunehmen, ist aber nicht verpflichtet, im Zweifelsfall die für die steuerpflichtige Person günstigste Annahme zu treffen
    • Es soll jedoch vermieden werden, dass Steuerpflichtige, die ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen, am Ende bessergestellt werden als Steuerpflichtige, die sich korrekt verhalten
      • Die Verletzung von Verfahrenspflichten darf sich nicht lohnen
      • Fälle, in denen die Steuerpflichtigen ihre Mitwirkungspflichten nicht wahrnehmen bzw. keine, unvollständige oder ungenügende Aufzeichnungen über ihre Umsätze (bzw. hinsichtlich der Feststellung oder Überprüfung der Steuerpflicht) führen, dürfen keine Steuerausfälle zur Folge haben
        • statt vieler:
          • BGer 2C_1077/2012
          • BGer 2C_1078/2012vom 24.05.2014, Erw. 2.3, m.w.H.
          • BVGer A-5892/2018vom 4.07.2019, Erw. 2.6.1
          • BVGer A-7088/2016vom 11.12.2017, Erw. 2.5.1
          • BVGer A-874/2017vom 23.08.2017, Erw. 2.6.3, m.w.H.
  • Schätzungsmethode, die den individuellen Betriebsverhältnissen Rechnung trägt
    • Grundprinzip
      • Ist die ESTV verpflichtet, eine Schätzung nach pflichtgemässem Ermessen vorzunehmen, hat sie diejenige Schätzungsmethode zu wählen, die den individuellen Verhältnissen im Betrieb der steuerpflichtigen Person soweit als möglich Rechnung trägt, auf plausiblen Annahmen beruht und deren Ergebnis der wirklichen Situation möglichst nahe kommt
        • BGer 2C_950/2015 vom 11.03.2016, Erw. 4.5
        • BGer 2C_576/2015 vom 29.02.2016, Erw. 3.4
        • BGer 2C_1077/2012 + BGer 2C_1078/2012vom 24.05.2014, Erw. 2.3
    • Art der Schätzungsmethode
      • Schätzungsmethoden mit folgenden Zielen
        • Ergänzung oder Rekonstruktion der ungenügenden Buchhaltung
        • Umsatzschätzungen aufgrund unbestrittener Teil-Rechnungsergebnisse in Verbindung mit Erfahrungssätzen
        • Berücksichtigung der brauchbaren Teile der Buchhaltung und allenfalls vorhandener Belege
          • BVGer A-874/2017 vom 23.08.2017, Erw. 2.6.4
          • BVGer A-3050/2015 vom 06.10.2015, Erw. 2.7.2
          • BVGer A-665/2013 vom 10.10.2013, Erw. 2.6.2, je m.w.H.
  • Abstellen auf Erfahrungszahlen
    • Definition Erfahrungszahlen
      • Erfahrungszahlen =   Ergebnisse, die aus zuverlässigen Buchhaltungen gewonnen und nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten statistisch verarbeitet werden
    • Rechtsnatur
      • Grundsatz
        • Erfahrungszahlen sind keine Rechtssätze und auch keine Beweismittel, die den ordnungsgemäss geführten Geschäftsbüchern gleichgestellt wären (vgl. Zweifel/Hunziker, a.a.O., S. 658 ff., S. 665, S. 679, m.w.H.
          • BVGer A-1133/2018 vom 26.09.2018, Erw. 2.7.1
          • BVGer  A-5175/2015 vom 01.03.2016, Erw. 2.7.1
        • Ausnahme
          • Durch einen Sachverständigengutachten erwiesene Erfahrungszahlen = Beweismittel
    • Heranziehung von Erfahrungszahlen
      • Grundsätzlich dürfen herangezogen werden:
        • Erfahrungszahlen, sei es im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für eine Ermessensveranlagung, sei es für die Vornahme der Schätzung
        • Nach der herrschenden Rechtsprechung ist das Abstellen auf Erfahrungszahlen grundsätzlich nicht zu beanstanden
          • BVGE 2009/60, Erw. 2.8
          • BVGer A-1133/2018vom 26.09.2018, Erw. 2.7
  • Funktion der Erfahrungszahlen
    • Erfahrungszahlen drücken Gesetzmässigkeiten in den Verdienstverhältnissen einzelner Branchen aus
    • Funktionsvoraussetzungen
      • sichere Grundlage(vgl. Zweifel/Hunziker, a.a.O., S. 679)
      • Erfahrungszahlen über durchschnittliche Umsatzziffern, aber nur bei Berücksichtigung der konkreten Umstände:
        • Breite Abstützung
        • Betriebsstruktur
        • regionale Gegebenheiten
        • Betriebsgrösse
      • MOLLARD PASCAL, a.a.O., S. 553
  • Stichproben aus anderen Fällen
    • Für Erfahrungszahlen müssen aus einer genügenden Anzahl von anderen Fällen umfassende, repräsentative, homogene und aktuelle Stichproben vorhanden sein
      • Es gibt keine absolute Zahl von Stichproben, welche für alle Branchen gültig wäre
      • Die Wahl der Stichproben darf nicht einseitig nur günstige oder ungünstige Verhältnisse betreffen
      • Die Stichprobe muss alle Verhältnisse in angemessener Anzahl umfassen, um repräsentative Ergebnisse ermitteln zu können
      • BVGE 2009/60 2.8.2
      • BVGer A-1133/2018 vom 26.09.2018, Erw. 2.7.2
      • BVGer A-5175/2015 vom 01.03.2016, Erw. 2.7.2
      • BVGer A-3821/2017 vom 24.04.2019, Erw. 2.4.3

Begründungspflicht

  • Pflicht zur Bekanntgabe der Erfahrungszahlen
    • Aus der Begründungspflicht folgt, dass die ESTV der steuerpflichtigen Person die Grundlagen der Erfahrungszahlen kundzugeben hat (vgl. Zweifel/Hunziker, a.a.O., S. 682 f.)
  • Pflicht zur Bekanntgabe der Berechnungsgrundlagen
    • Die ESTV hat dem Steuerpflichtigen bekanntzugeben:
      • die Art und Weise, wie die Ermessensveranlagung zustande gekommen ist
      • die Zahlen und Erfahrungswerte
    • Erläuterung der Daten
      • Die ESTV hat weiter zu erläutern, dass die zum Vergleich herangezogenen Betriebe nicht nur der gleichen Branche entstammen wie das eingeschätzte (gegebenenfalls) steuerpflichtige Unternehmen, sondern auch in anderer Hinsicht vergleichbar sind, wie zum Beispiel betreffend
        • Standort
        • Betriebsgrösse
        • Kundenkreis
        • usw.
      • Nur bei diesem Bekanntgabe-Umfang ist es der steuerpflichtigen Person möglich, die Veranlagung sachgerecht anzufechten
          • BVGE 2009/60, Erw. 2.8.4, m.w.H.
          • BVGer A-5892/2018 vom 04.07.2019, Erw. 2.7.3
          • BVGer A-1133/2018 vom 26.09.2018, Erw. 2.7.3
          • BVGer A-5175/2015 vom 01.03.2016, Erw. 2.7.3
  • Anwendung der Erfahrungszahlen
    • Keine bloss schematische Anwendung
      • Da es sich bei Erfahrungszahlen prinzipiell um Durchschnittswerte handelt, dürfen sie im Einzelfall nicht lediglich in schematischer Weise angewendet werden
    • Beachtung der Streubreite mit Maximal- und Minimalwerten
      • Für eine den individuellen Verhältnissen gerecht werdende Schätzung muss – zur Ausübung des pflichtgemässen Ermessens – bei der Anwendung von Erfahrungszahlen deren Streubreite (zwischen Maximal- und Minimalwert) beachtet werden
    • Darlegung der Ermessensausübung in der Entscheid-Begründung
      • Inwiefern die ESTV ihr Ermessen ausgeübt hat, ist in der Entscheid-Begründung darzulegen
        • BVGE 2009/60, Erw. 2.8.4
        • BVGer A-1133/2018 vom 26.09.2018, Erw. 2.7.4
        • BVGer A-5175/2015 vom 01.03.2016, Erw. 2.7.4, m.w.H.

Überprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht (BVGer)

  • Uneingeschränkte Prüfung der Ermessenseinschätzungs-Voraussetzungen
    • Das Bundesverwaltungsgericht überprüft das Vorliegen der Voraussetzungen für die Vornahme einer Ermessenstaxation uneingeschränkt
  • Zurückhaltende Prüfung der Unangemessenheit einer Ermessensveranlagung
    • Bei der Überprüfung von zulässigerweise erfolgten Ermessensveranlagungen auferlegt sich das Bundesverwaltungsgericht als ausserhalb der Verwaltungsorganisation und Behördenhierarchie stehendes, von der richterlichen Unabhängigkeit bestimmtes Gericht trotz des möglichen Rügegrundes der Unangemessenheit eine gewisse Zurückhaltung und reduziert dergestalt seine Prüfungsdichte
  • Eigenes Ermessen des BVGer nur bei erheblichen Ermessensfehlern
    • Grundsätzlich setzt das Bundesverwaltungsgericht nur dann sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen der Vorinstanz, wenn dieser bei der Schätzung erhebliche Ermessensfehler unterlaufen sind
  • Diese Praxis wurde vom Bundesgericht wiederholt bestätigt
      • BGer 2C_950/2015 vom 11.03.2016, Erw. 4.5,
      • BGer 2C_970/2012 vom 01.04.2013, Erw. 4.3
      • BGer 2C_426/2007 vom 22.11.2007, Erw. 4.3
      • BVGer A-5892/2018 vom 04.07.2019, Erw.2.8.1
      • BVGer A-1133/2018 vom 26.09.2018, Erw. 2.8.1

Beweislast

  • Für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Ermessenseinschätzung ist nach der allgemeinen Beweislastregel die ESTV beweisbelastet

Überprüfungsstufen

  • In der Rechtsmittelpraxis gibt es drei Stufen:
    • «Erste Stufe»
      • Prüfung, ob alle Voraussetzungen für eine Ermessenseinschätzung gegeben sind
    • «Zweite Stufe»
      • Prüfung, ob die vorinstanzliche Schätzung nicht bereits im Rahmen der durch das Bundesverwaltungsgericht mit der gebotenen Zurückhaltung vorzunehmenden Prüfung als pflichtwidrig erscheint
      • Vorwurf: Nicht pflichtgemäss ausgeübtes Ermessen
    • «Dritte Stufe»
      • Es obliegt – in Umkehr der allgemeinen Beweislast – der steuerpflichtigen Person, den Nachweis für die (offensichtliche) Unrichtigkeit der Schätzung der Vorinstanz zu erbringen.

Literatur

  • Schätzungsmethode
    • MOLLARD PASCAL, TVA et taxation par estimation, ASA 69 S. 530 ff.)
  • Erfahrungszahlen
    • Zweifel / Hunziker, Beweis und Beweislast im Steuerverfahren bei der Prüfung von Leistung und Gegenleistung unter dem Gesichtswinkel des Drittvergleichs [«dealing at arm’s length»], ASA 77 S. 658 ff., S. 665, S. 679, m.w.H.
  • Funktion der Erfahrungszahlen
    • MOLLARD PASCAL, a.a.O., S. 553
  • Pflicht zur Bekanntgabe der Erfahrungszahlen
    • Zweifel/Hunziker, a.a.O., S. 682 f.

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